Freitag, 2. Mai 2025

Russische Seele

 Wanja war kein Student, nein. Er hat die Hochschule neulich absolviert und arbeitete jetzt gelegentlich da, wo er mit seinem Deutsch Geld verdienen konnte. Aber heute hatte er Glück. Sein Freund hat ihn gebeten, für ihn im Westdeutschen Rundfunk einzuspringen, da es der 8. März war und niemand am Feiertag arbeiten wollte. Nur zwei Tage ihn vertreten. Korrespondentin Martha Krebs war eine junge Frau und Wanja kam natürlich mit einem Blumenstrauß - zum Frauentag. Aber er hat sofort verstanden: das war sehr unüblich und sah eher als sein persönliches Interesse an der jungen Dame aus. Und kein Mensch außer ihnen beiden im Büro. 

Gut, aber genau die richtige Zeit, um hier alles zu erkunden: die Küche, das Studio, die Regie und das Sekretariat, wo Wanja sich gerade hinsetzte und den Hörer nahm, wenn jemand angerufen hat. Überraschend viele Radiosender riefen an und fragten nach Martha Krebs - es gab heute also viele Bestellungen, überwiegend Live-Schaltungen für verschiedene Sendungen. 

Und schon am Ende des Tages, als die müde Martha aus ihrem Büro kam, sagte sie:

- Also Wanja, heute sollst du ausnahmsweise noch ein bisschen am Abend arbeiten. Aber das kannst du auch zu Hause tun. Für morgen hat WDR 5 eine Live-Schaltung  über die russische Seele bestellt. ich weiß ehe nichts darüber. Du sollst mir einfach schreiben, was die russische Seele ist. Das werde ich in der Sendung erzählen, wenn ich danach gefragt werde.

Und sie ging nach Hause.

Wanja schrieb zu Hause einen Text und war am nächsten Tag um neun Uhr schon im Studio. Das hat er geschrieben und zweifelte ein bisschen, ob das für die Sendung passen würde. Martha nahm den Text, bedankte sich und verschwand im ihrem Büro.


“Russische Seele”


Die “Russische Seele” ist ein Mythos, aber gerade ein Mythos ist das wahrste, was es geben kann. Es gibt z.B. keinen Mythos über die “Amerikanische Seele”, wie über den “Russischen Cowboy”.

Unter der “Russischen Seele” wird verstanden, dass das Geistige viel wichtiger als das Materielle ist.

In dieser Hinsicht - und nur in dieser - fühlen sich die Russen den Ausländern weit überlegen.

Wenn man das stressige Moskau verlaesst und in die Provinz fährt - nach Nishnij Nowgorod oder nach Rostow-am-Don - da trifft man Leute im Bus, auf der Haltestelle, und da fühlt man, dass es die “Russische Seele” gibt. In den meist unerwarteten Orten: einfach an einer Bushaltestelle, oder am Kiosk. Man kann Leute über die Sachen reden hören, die einer nie erwartet hätte: ü
ber Literatur, Philosophie, Religion. Und nicht weil sie sich mit diesem Thema extra beschäftigen, sondern einfach so, weil einer ein Buch gelesen hat, oder weil einer auf einen Gedanken gekommen ist.

Ich gehe jede Nacht um 0 h mit meinen zwei Hunden spazieren - einem Kolli und einem schäferhundartigen Mischling, den man von der Datscha nach Moskau in die Stadtwohnung mitgenommen hat, weil der Wetterbericht einen besonders kalten Winter in diesem Jahr vorausgesagt hat, und weil das Werk, wo der Hund in den Wintern “gearbeitet” hat, lahmgelegt worden war.
Der Hund war völlig wild und für ihn war ein großes Problem, in den Hauseingang hineinzugehen. Ich habe eine Stunde lang auf ihn eingeredet. Ununterbrochen erklaerte ich ihm, dass ihm nichts passiert, wenn er das Haus betritt, dass man in Moskau im Winter nicht draußen wohnen kann. Dabei lag der Hund auf dem Asphalt, hörte mir zu und kämpfte mit seinen Reflexen. Früher hat der Hund unter einem Landhaus gewohnt und hat in seinem Leben nur ab und zu die Landhäuser fuer eine kuerzere Zeit betreten, um eine Wurst zu bekommen oder um gestreichelt zu werden. Meine Einreden haben offensichtlich gewirkt, weil keiner davor mit dem Hund in seinem ganzen Leben insgesamt so viel gesprochen hat - und mit schrecklichen psychischen Problemen ging der Hund in den Hauseingang letztendlich hinein. Das ist so etwas wie ein Fallschirmsprung für mich. (Der Aufzug war dann das nächste Hindernis).

“Am Anfang war das Wort, warum ist es so, Vater?” - Stummgeborener Junge, Andrej Tarkowskij, sein letzter Film "Opferbringung, Norwegen, Ende der 80-er Jahre.

Ich werde nie vergessen, wie ich am Todestag von Tarkowskij einen Arbeiter getroffen habe. Wir haben damals in einer Gemeinschaftswohnung in der Innenstadt Moskaus gewohnt. 7 Minuten vom Kreml zu Fuß. Das Gebäude wurde 1755 von einem beruehmten Architekten erbaut. Das Haus hat den Brand von 1812 ueberstanden, weil es auf einem Hügel stand. Ihm gegenueber steht das ehmals prachtvolle Gebaeude des Jausskaja-Krankenhauses, wo 1812 Murat gestanden hat. Da riecht die ganze Umgebung nach Altmoskau. Da war ich in meinen Jungenjahren von den örtlichen Rowdies erpresst worden. Alle drei haben ein schreckliches Ende erlebt: der eine im Gefängnis, der andere wurde während eines Kartenspiels erstochen und der dritte fiel schwerbetrunken während seiner Hochzeitsfeier von der dritten Etage aus dem Fenster. - Damals forderten sie von mir, dass ich draußen mein Cello auspacke und ihnen zeige, wie darauf gespielt wird. Für mich war - und ist auch jetzt - draußen das Cello auszupacken etwas absolut Unmögliches. Schließlich hat mich Gott davor doch irgendwie durch Zufall bewahrt. Damals war ich 11 Jahre alt.

Und nun bin ich Student oder Schulabsolvent und gehe über denselben wild mit Bäumen bewachsenen Hügel. Da kommt mir ein Arbeiter mit einer Flasche aus dem nächsten Weingeschäft entgegen und fragt mich. “Haben Sie gehoert, dass Tarkowskij gestorben ist?” Nein, das habe ich nicht gehoert. Aber mich wundert in erster Linie, dass ein Werkarbeiter vom Lichatschow-Autowerk, wie es sich spaeter herausgestellt hat, so entrüstet über den Tod von intellektuellem Filmregisseur Tarkowskij ist. Tarkowskij war natürlich eine sehr bekannte Persoenlichkeit in den Breshnew-Zeiten. Aber seine Filme galten für völlig unverständlich. Die Intellektuellen hielten es hingegen für ihre Pflicht, sich alle Tarkowskij-Filme anzusehen.

Der angetrunkene Arbeiter erzählte mir die Geschichte, wie er Tarkowskij-Filme lieben gelernt hat. Einmal ging er ins Kino und da war keine Komödie, sondern ein Tarkowskij Film. Nach diesem Film ging er in die Werkbibliothek und sagte zum Werkbibliothekar (wahrscheinlich der größten Autoritaet in intellektuellen Problemen): “Iossif Moissejewitsch, ich habe in diesem Film nichts verstanden - überhaupt nichts”. - “Und wieviele Male hast du dir ihn angesehen?” - “Einmal” - “Tarkowskijs Filme muss man sich sechs oder sieben Mal ansehen, dann wirst du etwas verstehen.” Und so hat er sich denselben Film sieben Male angesehen, hat sofort Eintrittskarten für sechs Vorführungen gekauft und kannte ihn schon fast auswendig, dann noch einen Film und noch einen. Er kam zum Bibliothekar wieder und sagte: “Ja, Iossif Moissejewitsch, sie hatten recht”. 

Wenn ich mit meinen zwei Hunden gassi gehe, sehe ich oft eine Frau am Hauseingang stehen. Einmal haben wir miteinander einwenig gesprochen, und ich habe von ihr etwas erfahren. Sie ist eine Gläubige, und zwar eine “fanatisch” oder “richtig” Gläubige, denen wir gewöhnlich aus dem Weg gehen, weil diese Leute sich zu stark von den anderen unterschieden, sie haben etwas gefunden, was die anderen nur suchen und deshalb wirken sie manchmal befremdend. Wenn man mit ihnen lange spricht kann man leicht in Ohnmacht fallen. Ihre Wirkung gleicht der Wirkung des Psychotherapeuten Kaspirowskij. Und diese Frau steht vor dem Hauseingang um halb eins, weil sie betet und nicht von ihren Angehörigen gestört werden will. Das Gebet ist aber merkwürdig. Zunächst fängt sie an, normal zu beten, aber laut, vor sich hin. Dann beginnt sie, unverbundene Laute auszusprechen, und dabei denselben Sinn auszudruecken, den sie in Worten vorhin ausgedrueckt hat. Es gibt so eine Übung im europäischen Autotraining von Dr. Schmidt. Man spricht und singt fünfzehn Minuten lang unverbundene Laute aus, das reicht, um den Stress des Tages abzubauen. Es stellt sich heraus, dass man so mit dem Gott sprechen kann. Und ich dachte mir: Das bedeutet, dass man so auch auf einem Musikinstrument spielen - improvisieren - kann. Denke an Free Jazz zum Beispiel. Wie der Saxofonist in Tschuchrais Film “Taxi Blues”: “Du liebst dein Auto, Wassja, und ich meinen Saxofon und spreche mit dem Gott”. So einfach ist es. Was kann noch einfacher sein.

Siehst du in allen diesen Geschichten eine besondere Seele?"


Martha kam aus ihrem Zimmer raus und sagte:

- Nein, ich habe es wohl vermasselt. Über den Hund habe ich erzählt und das war witzig. Dass die Russen Tarkowskij lieben, habe ich auch gesagt. Na, vielleicht ist es auch gut, dass es ein Geheimnis geblieben ist. Du hast es gut geschrieben. Ich habe es schlecht erzählt. Mach dir nichts daraus. 



1 Kommentar:

  1. Ich war Studentin, als ich den "Spiegel" von Tarkowski zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe natürlich nichts verstanden. Trotzdem hat mich der Film sehr fasziniert. Es war ein sehr komisches Gefühl, vom Film tief beeindruckt zu sein, ohne ihn verstanden zu haben!

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